© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.0 // All­tag am Kai­ser­platz 16 / 17: Zwei beschürz­te Müll­män­ner schul­tern das, was kei­ner haben will. Hin­ter den ver­sam­mel­ten Müll­ton­nen hält sich die Stra­ßen­bahn Nr. 44 an der Sta­ti­on Kai­ser­platz zur Abfahrt bereit. Ein Schild ver­weist auf eine Schuh­ma­che­rei, die sich auf der ande­ren Sei­te des Plat­zes – in der Main­zer Stra­ße 14 befin­det. Ori­en­tie­rung gebend sind die Haus­fas­sa­den Kai­ser­platz 20 (heu­te: Bun­des­platz 155) und der dahin­ter lie­gen­de Pracht­bau der Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten: wir befin­den uns vor den Num­mern Kai­ser­platz 16 und 17.

Nach sei­nem Maschi­nen­bau­stu­di­um kam der im Jahr 1882 gebo­re­ne Fried­rich Sei­den­stü­cker nach Ber­lin und wand­te sich der Bild­haue­rei zu. Bereits ab 1908 arbei­tet er im soge­nann­ten Ate­lier­haus am Kai­ser­platz 17 und wohnt vor­erst zur Unter­mie­te in der Main­zer Stra­ße 22. Das Ate­lier­haus, in dem auch die damals noch unbe­kann­te Renée Sin­te­nis arbei­te­te, befin­det sich im zwei­ten Hin­ter­hof der Num­mer 17 und wird bis heu­te von Künst­lern genutzt. Und: es steht Rücken an Rücken mit dem Gar­ten­haus der Num­mer 16, in dem Sei­den­stü­cker spä­tes­tens ab 1935 bis zu sei­nem Tode wohnt.

Text: Chris­ti­na Kautz


© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.1 // Kai­ser­platz 16 – Zwei­ter Hin­ter­hof – Gar­ten­haus: Im Jahr 1946 steht das weit­ge­hend unver­sehr­te Gar­ten­haus neben einer Rui­ne – Hin­ter­haus und Sei­ten­flü­gel sind zer­stört. Für die­se Auf­nah­me sei­ner lang­jäh­ri­gen Woh­nung sucht Sei­den­stü­cker den Sei­ten­flü­gel im zwei­ten Hin­ter­hof des Hau­ses Wex­stra­ße 29 auf.

Die Dach­woh­nung am Kai­ser­platz 16 war die drit­te Woh­nung des Künst­lers im Kiez. 1921 war er von der Main­zer Stra­ße vor­erst in das Haus am Kai­ser­platz 17 gezo­gen, wo er auch arbei­te­te. Die benach­bar­te Num­mer 16 soll­te dann sei­ne letz­te Woh­nung und Arbeits­stät­te blei­ben. Zwei Kel­ler im Vor­der­haus dien­ten ihm als Archiv – einer brann­te Ende des Krie­ges aus. Es heißt, dass er durch getrenn­te Lage­rung der Nega­ti­ve und Papier­ab­zü­ge fast alle sei­ner Moti­ve ret­ten konn­te. Nach klas­si­schen Abbil­dun­gen des Kai­ser­plat­zes sucht man ver­geb­lich. Sein moti­vi­sches Inter­es­se galt viel­mehr dem drei Kilo­me­ter nörd­lich des Kai­ser­plat­zes befind­li­chen Zoo­lo­gi­schen Gar­ten, dem viel­leicht wich­tigs­ten Bezugs­ort des Künst­lers und Foto­gra­fen. Dort hat er zeit­le­bens den Groß­teil sei­ner berühm­ten Moti­ve aus den unge­wöhn­lichs­ten Per­spek­ti­ven eingefangen. 

Text: Chris­ti­na Kautz


© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.2 // Sei­den­stückers Gar­ten­haus­bal­kon: Durch die kulis­sen­haf­te Rück­wand der Hin­ter­haus­rui­ne lässt der Foto­graf die Kame­ra steil nach oben bli­cken, so dass man – im obe­ren Teil des ver­mau­er­ten Fens­ters – den Bal­kon sei­ner Dach­woh­nung sehen kann. Dar­un­ter kann man durch das qua­dra­ti­sche Fens­ter den mit Pflan­zen und Wäsche bestück­ten Bal­kon ent­de­cken, der auch auf dem vor­her­ge­hen­den und dem nach­fol­gen­den Bild deut­lich zu erken­nen ist. Eine kur­ze Täu­schung: man könn­te fast mei­nen, der mit Klet­ter­pflan­zen berank­te Sei­ten­flü­gel sei noch bewohnt. Beim nähe­ren Hin­se­hen ist zu erken­nen, dass die Ver­bin­dungs­gän­ge ins Lee­re lau­fen, da dem Hin­ter­haus bereits sämt­li­che Zwi­schen­de­cken fehlen.

Die sich aus der ver­wir­ren­den, schwin­del­erre­gen­den Per­spek­ti­ve erge­ben­den stür­zen­den Lini­en unter­strei­chen die Ein­sturz­ge­fähr­dung der frei­ste­hen­den Hin­ter­hof­fas­sa­de. Ob sich M. C. Escher von die­sen Geis­ter­häu­sern der Nach­kriegs­zeit inspi­rie­ren las­sen hat?

Das Gar­ten­haus steht heu­te noch.

Text: Chris­ti­na Kautz


© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.3 // Som­mer vorm Bal­kon: Die Idyl­le scheint per­fekt, von Krieg und Bau­schä­den kei­ne Spur. Der in der Son­ne Mit­tag­schlaf hal­ten­de Nach­bar ist von Blu­men­töp­fen umringt, die Pflan­zen grü­nen fröh­lich vor sich hin. Der Bal­kon ist mit einem Son­nen­schirm und zwei mit Kis­sen ver­se­he­nen Stüh­len bestückt – ein klei­nes Stück­chen Him­mel­reich.

Die schrä­ge Per­spek­ti­ve hat Fried­rich Sei­den­stü­cker bewusst gewählt: es ist der Gegen­schuss zum vor­an­ge­gan­ge­nen Bild aus sei­ner Woh­nung. Der Blick aus dem obers­ten Stock­werk des Gar­ten­hau­ses ist steil nach unten – in Rich­tung Bun­des­platz auf die Rück­wand des Hin­ter­hau­ses gerich­tet, wel­ches dem Foto­gra­fen zuvor als Rui­nen­ku­lis­se gedient hat.

Text: Chris­ti­na Kautz


© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.4 // Brand­wand an Brand­wand: Eine Brand­wand wird von der benach­bar­ten Brand­wand getrennt. Auf einem schma­len Mau­er­vor­sprung sitzt im nicht mehr exis­tie­ren­den obers­ten Stock­werk eines Hau­ses ein not­dürf­tig mit einem Seil gesi­cher­ter Bau­ar­bei­ter mit Blick in die ihn blen­den­de Son­ne – ein zwei­ter, unge­si­cher­ter Arbei­ter lässt die­ses Seil vom benach­bar­ten Sei­ten­flü­gel aus durch sei­ne Hän­de glei­ten. Es wäre beru­hi­gend zu wis­sen, ob das Seil am rech­ten obe­ren Bild­rand tat­säch­lich gesi­chert ist.

Ist es der Foto­graf, der sei­nen Schat­ten auf das Bild wirft? Die Per­spek­ti­ve lässt ver­mu­ten, dass auch Fried­rich Sei­den­stü­cker vom benach­bar­ten Gar­ten­haus aus eine wag­hal­si­ge Posi­ti­on ein­ge­nom­men hat. Sei­ne Dach­woh­nung war – wie durch ein Wun­der – im Krieg unver­sehrt geblie­ben, und der Blick von dort reicht nun – zwi­schen den Schorn­stei­nen und dem Dach der benach­bar­ten Num­mer 17 hin­durch­ge­schaut – in Rich­tung Kai­ser­platz bis zum gegen­über­lie­gen­den Haus Kai­ser­platz Nr. 1 und den dahin­ter­lie­gen­den Dächern an der Hildegardstraße.

Text: Chris­ti­na Kautz


© bpk / Fried­rich Seidenstücker

Sta­ti­on 10.5 // Stein für Stein: In Fort­set­zung der aben­teu­er­li­chen Bil­der­fol­ge (Brand­wand an Brand­wand) sehen wir die Stein-für-Stein-Demon­ta­ge aus der Per­spek­ti­ve des Arbei­ters, der das Seil führt. Die im Block­ver­band mit viel Mör­tel errich­te­te Brand­wand setzt unter der müh­sa­men Hand­ar­beit eine gro­ße Staub­wol­ke frei… und die Trüm­mer fal­len und rie­seln durch alle Stock­wer­ke hin­durch bis in das Erd­ge­schoss. Dort häuft sich der Schutt zu Ber­gen, bis er dann nach vor­ne zur Stra­ße gekarrt und – nie­mand weiß wann – ent­sorgt wird.

Von links stößt bzw. stieß der schlan­ke Sei­ten­flü­gel des zwei­ten Hin­ter­ho­fes der Adres­se Kai­ser­platz 16 auf das Hin­ter­haus. Von der Dach­kan­te des benach­bar­ten Sei­ten­flü­gels (im zwei­ten Hin­ter­hof der Num­mer Kai­ser­platz 17) aus gese­hen bli­cken wir gemein­sam mit dem Foto­gra­fen und den Bau­ar­bei­tern in den Abgrund einer Rui­ne. Die Zwi­schen­de­cken feh­len und durch die Fens­ter­öff­nun­gen der noch ste­hen­den Wän­de wirft die Mit­tags­son­ne gro­tes­ke Schatten.

Text: Chris­ti­na Kautz

Über­blick Sta­ti­on 6
Sta­ti­on 1 Sta­ti­on 7
Sta­ti­on 2 Sta­ti­on 8
Sta­ti­on 3 Sta­ti­on 9
Sta­ti­on 4 Sta­ti­on 10
Sta­ti­on 5 Sta­ti­on 11


The­men der ein­zel­nen Stationen

Sta­ti­on 1  

1.0—Kunsthochschule im Verwaltungsgebäude


Sta­ti­on 2  

2.0—Ein Kind bläst Seifenblasen

2.1—Ein Ort für Bedürfnisse


Sta­ti­on 3

3.0—Ein Paar fährt Fahrrad

3.1—Drei Män­ner auf einer Stehleiter


Sta­ti­on 4

4.0—Zwei Kin­der, ein Rol­ler und eine Litfaßsäule

4.1—Drei Kin­der und ein Roller


Sta­ti­on 5

5.0—Eine prall gefüll­te Ledertasche


Sta­ti­on 6

6.0—Lange Schlan­ge vor dem Pilsator


Sta­ti­on 7

7.0—Ganz schön verzettelt

7.1—Das geteil­te Haus

7.2—»Macht das Tor auf!«

7.3—Die Bar­rie­re bekommt Verstärkung

7.4—Mittelstützen für den Ring

7.5—Tunnel von unten

7.6—Tunnel von oben


Sta­ti­on 8

8.0—Ich will hier ein­fach nur sitzen


Sta­ti­on 9

9.0—Sichtlich frös­telnd


Sta­ti­on 10 (Fried­rich Seidenstücker)

10.0—Alltag am Kai­ser­platz 16 / 17

10.1—Kaiserplatz 16 – zwei­ter Hin­ter­hof – Gartenhaus

10.2—Seidenstückers Gar­ten­haus­bal­kon

10.3—Sommer vorm Balkon

10.4—Brandwand um Brandwand

10.5—Stein für Stein


Sta­ti­on 11

11.0—Berlin, Ecke Bundesplatz